ORIGINAL Nr. 3 - September 2014 - page 5

EDITORIAL
Die Rigi wie eine Sphinx
Ist das Wetter leicht trüb und ein Nebelschleier schleicht über die Rigi, liegt der
Berg, von der Luzerner Seebrücke aus gesehen,
wie eine Sphinx in der Landschaft
.
Der Kulm wirkt wie das stattliche, stolze Haupt. Von Staffel her zieht sich der Berg wie der Rü-
cken eines Löwen hinunter zum Känzeli. Die Erhebungen hinter diesem Rücken liegen dann im Dun-
keln und tauchen erst bei strahlendem Wetter wieder auf. Eine Sphinx gibt Rätsel auf.
Als Seminarist in Rickenbach wanderte unsere Klasse mit dem Turnlehrer Karl Bolfing vom Urmiberg über die
Höhen des Berges bis zum Kulm. Der Weg zog sich wie eine Riesenschlange über die Rigikette. Es war eine Wande-
rung, die uns forderte.
«Rings die Herrlichkeit»
, hätten wir mit Goethe ausrufen können. Der Blick in die Tiefe und auf
die gewaltige, in Riesenwellen dahinfliessende Berglandschaft rundum begeisterten. Es war eine Begeisterung, die nicht
aus der Seele getilgt werden konnte.
Der Weg war spannend. Rätselhafter schien, was am Fuss dieses Berges liegt: die stattlichen Dörfer mit
eigenem Charakter
, die
Hotels, die Bahnen, die den Berg hochkraxseln. Die Seilbahn von Weggis. Aber auch die Menschen, lernt man sie erst kennen. Die
Geschichten von Joseph Maria Camenzind und anderen. Dann die Gersauer mit ihrer Republik als Unikum in der Schweizergeschich-
te und ihrem noch immer unverfälschten Stolz. Sagte einer zu einem Beckenrieder: Weisst du, warum Beckenried schöner ist als
Gersau? Und er gab auch gleich selber die Antwort: Weil du zu uns hinüberschauen kannst.
«Rings die Herrlichkeit» ist auch Motto der alljährlich stattfindenden
Literatur-Tage
, die dem oft lauten Tourismus seine Stille entgegen-
halten. Ist der Tagestross weg, herrscht
erholsame Ruhe
. Den Wanderer, der tagsüber vom Weg abzweigt, umfängt eine
seltsam fragende Stille. Vielleicht, mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke:
«Wie ist das klein, womit wir
ringen, was mit uns ringt, wie ist das gross...»
Das grösste Rätsel offenbart der
Sonnenaufgang.
Tauchen die Berggipfel aus dem Dunkel
auf, wächst die Stimmung von aussen nach innen und plötzlich ist die Frage gegenwär-
tig: Warum ist Licht und nicht vielmehr nichts? Am hellen Tag dann erwacht die
Frage nachdem Sinn des Lebens und der Verantwortung. Wer hat die Bierdose
ins nasse Gras geworden?
Wer hinhört, vernimmt die Schläge mit dem Schlaghammer auf den Zaun-
pfahl wie im Film
«Mein erster Berg»
. Ein Symbol dafür, dass der Berg
vielen Menschen Arbeit und Verdienst gibt: den Bauern, den Wirten,
den Hoteliers, der Bahn, den Läden. Schon ist Alltag. Das Rätsel
scheint gelöst.
Wir aber, wir vom Unterland, rufen bei jeder Fahrt oder
Wanderung auf die Rigi schlicht und einfach:
Du bist
ein grossartiger Berg!
Der Blick geht ins Weite und
wir schauen über das hinweg, was uns stört. Die
Sphinx aber dreht sich, denn der Berg, mit
seinen vielen Häuptern wechselt ständig
sein Gesicht.
Andreas Iten
, 1936, früherer Regierungs- und Ständerat des
Kantons Zug. Schriftsteller. Mitglied des OK Rigi-Literaturtage.
Zahlreiche Werke. Wohnhaft in Unterägeri.
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