Nr.1 Juni 2012 - page 64

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O
RIGI
NAL
Der Zürcher Heinrich Hirzel publizierte 1807 eine Reisebe-
schreibung, die schon im Titel alles klar machte: «Reise auf
den Rigi, nach Zug und Adlischweil, welche hauptsächlich
zum Zwecke hatte, von oben herunter zu sehen». Schon
damals also besuchte man die Rigi der schönen Aussicht
wegen – was vor allem bei klerikalen Beobachtern der Sze-
ne einigen Missmut erregte. Wenige Jahrzehnte zuvor
nämlich war meist die Kapelle im Klösterli der grösste An-
ziehungspunkt; die frommen Pilger kamen im Sommer zu
Tausenden. Jetzt aber stiegen die Besucher weiter den Berg
hinauf, wie ein Pfarrer Fassbind von Schwyz damals be-
trübt schilderte: «Es erweckt übrigens Bedauern, wenn
man sieht, wie so viele Fremde, die weither kommen, um
der blossen Aussicht wegen auf die Höhe des Berges zu
steigen, mit kaltem Stolze bei der Gnaden-Capelle vorüber-
ziehen». Aber den Gastwirten sei auch mehr an den «rei-
chen Lutheranern» als an den armen Pilgern gelegen. Be-
zeichnend ist ja, dass in jener Zeit das Gasthaus «Maria
zum Schnee» im Klösterli in «Sonne» umgetauft wurde.
«Vom heiligen Schauer ergriffen …»
Dass der Blick in die Alpen durchaus auch etwas Religiöses
haben konnte, entging Pfarrer Fassbind. Dabei musste
man bei einigen Beschreibungen nur
die Kapitelüberschriften lesen, um zu
wissen, was den Armen geschah. Gre-
gor Grob schrieb das Büchlein «Der
Schweizer auf dem Rigiberg» 1792
und fasste das entsprechende Kapitel
so zusammen: «Aussicht auf dem Ri-
gikulm – Wirkung derselben – schwer
zu beschreiben – Gott – Mensch, seine
Grösse und Kleinheit – Unsterblichkeit – Werth der irdi-
schen Güter im Verhältnis zur Bestimmung des Men-
schen». Der Zürcher Theologe Leonhard Meister formulier-
te es schliesslich aus: «Vom heiligen Schauer ergriffen, fiel
ich aufs Knie und mich selbst fühlt’ ich nicht mehr, bis ein
Thränenstrom aus meinem Auge hervorbrach». Auch Carl
Maria von Weber war 1811 überwältigt vom Sonnenauf-
gang auf der Rigi – wie so viele vor und nach ihm: «Be-
schreiben muss man so etwas nicht!»
Eingebildet auf ihre Aussicht
Natürlich gab es auch Spötter: Ulrich Hegner etwa amü-
sierte sich 1819 darüber, welchen Kult die Schweizer mit
der schönen Aussicht trieben: «Kein deutscher Fürst konn-
te vormals stolzer auf seine militärischen Drahtpuppen,
kein Franzose eingebildeter auf die unsterblichen Meister-
werke seiner Dichter sein, als es die Schweizer auf ihre Aus-
sichten sind.» Wo immer irgendeine Höhe liege, werde der
Fremde hingeführt, als hätte er so etwas noch nie gesehen.
Chaos beim Sonnenaufgang
Am liebsten wären alle Rigi-Besucher selbstverständlich
mit sich und der Natur allein gewesen. Das war vielleicht
noch vor dem Bau des ersten Kulmhauses 1816 möglich,
als die Rigibesucher noch frühmorgens zu Fuss vom Klös-
Die Rigi bietet einen Blick auf genau 620 (!) Berggipfel. Darum
war das «Hinaufsteigen, um von oben herunterzusehen» seit jeher
das Ziel der Rigi-Gäste. Und oft kam es beim berühmten Rigi-
Sonnenaufgang zu einem frühmorgendlichen Chaos im Hotel. 
Text: Adi Kälin Fotos: Verschiedene Archive
In Unterhosen und
Strümpfen zum
Sonnenaufgang
Wer den Sonnenaufgang auf der Rigi erleben wollte,
war im 19. Jahrhundert nie allein.
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