Nr.2 Oktober 2013 - page 46

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O
RIGI
NAL
meisten Leute ängstigten sich allerdings
überhaupt nicht, wenn sie das Gespenst
zum ersten Mal sahen. Moritz Busch etwa
ärgerte sich am Ende nur, dass er es nicht
genauer untersucht hatte. Aber eine Zeit
lang habe er ja auch kaum zu atmen ge-
wagt, um das «zarte Gebilde» nicht zu stö-
ren.
Auch der Komponist Richard Wagner er-
freute sich am Rigigespenst und spielte gar
mit ihm. Wagner war 1849 in die Schweiz
geflohen. Er war 30-jährig, fit und bald ein
grosser Bergwanderer. Die Rigi hatte es
ihm besonders angetan, weshalb er immer
wieder zum Kulm hinaufstieg. Am 28. Au-
gust 1850 – in Weimar fand an diesem Tag
die Uraufführung von Wagners Oper «Lo-
hengrin» statt – war er zusammen mit sei-
ner Frau Minna auf der Rigi. Er erhoffte
sich körperliche und seelische Erholung
«in diesen Tagen, wo ich natürlich von
mannigfachen Gefühlen erregt bin».
Auf dem Kulm begegnen die beiden ihren
Umrissen im Nebel und beginnen mit ih-
nen zu spielen: Sie schwingen mit den Ar-
men, die Schatten tun es ebenfalls. Auf je-
den Fall erfreuen sie sich, wie Wagner
später schreibt, an diesem seltsamen
Schauspiel. Eventuell hat das Rigigespenst
auch Einzug gehalten in Wagners Kunst.
Jedenfalls gibt es eine Bühnenanweisung
für den Schluss von «Das Rheingold», in
der von einer Regenbogenbrücke die Rede
ist. Ganz sicher hat das frühmorgendliche
Alphornblasen im Kulmhotel Wagner be-
einflusst. Das «drollige Geblase», wie er es
nannte, wurde zur Hirtenmelodie in «Tris-
tan und Isolde».
Natürlich hatte die Rigi das Phänomen
nicht exklusiv für sich. Beschreibungen gibt
es vom Weissenstein, vom Pilatus, aus den
Dolomiten gar. Weil die Rigi aber im 19.
Jahrhundert der berühmteste und beliebtes-
te Berg Europas war, gab sie der Erschei-
nung auch den Namen. Heute wird sie meist
Brockengespenst genannt – nach dem deut-
schen Gebirgszug, an dem wegen seiner ge-
ringen Höhe und dem häufigen Nebel die
Erscheinung besonders oft auftritt.
Auf eine ganz interessante Sache hat übri-
gens schon Albert Heim aufmerksam ge-
macht: Obwohl das Gespenst ja eigentlich
häufig auftritt, bleibe es doch «für ge-
wöhnlich unbeachtet». Selbst unter Füh-
rern und Jägern gebe es viele, die noch nie
davon gehört hätten. Und eine Umfrage bei
der grossen Zürcher SAC-Sektion Uto habe
ergeben, dass nur knapp ein Drittel jemals
ein Rigigespenst gesehen habe. Viele aller-
dings dürften es gesehen haben, ohne zu
wissen, was es ist. Auch heute noch lohnt
es sich, gezielt danach Ausschau zu halten.
Den besten Erfolg hat man, wenn man bei
herbstlichem Nebel auf dem Kulm den
Schatten der Sendeturm-Spitze auf dem
Nebel sucht. Je nach Tiefe des Nebelmeers
ist ein kleineres oder grösseres Gespenst-
chen zu erkennen.
Das Rigigespenst ist auch auf dem Pilatus zu sehen, wie diese Fotografie bei der Bergstation der Pilatusbahn zeigt. (Bild Adi Kälin)
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